Spiritualität
Spiritualität unterscheidet sich für mich ganz grundsätzlich von Religion. Ich behaupte, der Unterschied liegt darin, daß Religion die Übernahme von Konzepten, Gewohnheiten, Gesetzen und Glaubensstrukturen Anderer beinhaltet; Spiritualität ist hingegen das eigene Erfahren des Menschseins in allen Richtungen und in jeder Hinsicht mit der größtmöglichen Wachstumschance hin zur Erkenntnis und Erfahrung des Göttlichen.
Religion und Spiritualität schließen einander nicht aus, sondern können sich sogar gegenseitig sehr intensiv dienen, allerdings werden die festzementierten Glaubenssätze der Religionen bei einem spirituellen Wachstum durch den Weg der Erkenntnis immer unbedeutender. Letztendlich erkennt der spirituelle Pilger auf seinem Weg die Gemeinsamkeiten aller Religionen und erfreut sich daran, weil alle Wege schließlich zum göttlichen Ziel führen. Der religiöse Ballast, nämlich die von Menschen für Menschen gemachten Konzepte, starren Strukturen und Dogmen, wird mehr und mehr abgeworfen zugunsten der wachsenden Erkenntnis des Heilsweges, welches in Erwachen und Erleuchtung mündet, um schließlich die Göttlichkeit im aktuellen körperlichen Dasein zu erfahren. Statt sich von Gott getrennt zu fühlen und daran zu leiden, erfährt der Mensch sich als Teil des Gesamten, des All-Eins-Seins.
Mein geliebter indischer Lehrer, Sri Bhagavan, den man in Südindien als Avatar verehrt, sagte einmal dazu folgendes:
„Spiritualität hängt mit dem Herzen zusammen. Es hat nichts mit Deinem Wissen zu tun oder mit Deiner sogenannten Religiosität. Es ist einfach eine Sache des Herzens. Wenn Du für einen Menschen fühlen kannst, für ein Tier, für jemanden: Dann bist Du spirituell. Tatsächlich hat es nicht einmal mit Gott zu tun. Es geht von der Herzensebene aus, und wenn Du es fühlen kannst, dann ist Gott schon da. Die Frage ist also – die Menschen haben ihr Herz verloren, den Menschen ist ihr Herz verloren gegangen. Wir haben das Herz systematisch abgetötet. Deshalb gibt es das schöne Bild, das Bild von Jesus mit dem Heiligen Herzen. Diese Bilder musst Du gesehen haben. Das ist der Schlüssel.“
Obwohl wir in Deutschland jetzt schon 70 Jahre lang im Frieden leben, die Nation nach 30 Jahren Trennung das Glück einer gewaltlosen Wiedervereinigung erleben durfte, wir in Wohlstand und Fülle tägliche Geschenke als selbstverständlich ansehen, die für Milliarden Menschen zeitlebens ein Traum bleiben werden – obwohl wir dies alles haben, sind wir unzufrieden, hetzen atemlos durch unser Leben, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick und wir haben uns dabei so weit von Gott entfernt, wie es nur möglich ist. Vielleicht hat der weise indische Lehrer Sri Bhagavan sogar Recht damit, daß wir unser Herz verloren haben?
Spiritualität ist gelebte Menschlichkeit, bewusstes Denken und Handeln im Sinne von Einssein mit allem was ist. Erst wenn wir erkennen, daß alles aus einer einzigen großen Quelle schöpft, die alles belebt und durchdringt, wenn wir neugierig werden und uns mit dieser Quelle näher beschäftigen, um mit ihr in Verbindung zu treten, sie vielleicht sogar zum Zentrum unseres Seins machen möchten, erst dann betreten wir den Pfad der Spiritualität.